Kapitel 12 - Flussufer
Träge floss er vor sich hin. Ohne nachzudenken, ohne sich aufzuregen. Er hatte viel aus den vergangenen Wochen gelernt. Allem voran hatte er die Gewissheit errungen, dass sich Aufregung nicht lohnte. Dass sie keine Lösung für sein Problem darstellte. Also hatte er sie abgelegt, gerade so, als wäre sie nur eines der vielen Treibhölzer, die er unterwegs auflas, um sie eine Weile mitzunehmen und schließlich an anderer Stelle wieder abzuladen. Wenn ihm eines der Hölzer besonders gut gefiel, mochte es vorkommen, dass er es eine ganze Weile mit sich herumtrug. Aber irgendwann kam immer der Moment des Abschieds. Eine Wurzel, in dem sich das Treibholz verfing, ein Stein, der aus dem Wasser ragte und alles aufhielt, was sich unbeabsichtigt gegen ihn warf oder gar ein Kind, das am Flussufer spielte und lachend das Holz aus dem Wasser angelte, nicht wissend, dass es damit den Fluss um einen Freund brachte und das Holz um die sehnsüchtig herbeigesehnte abenteuerliche Reise. Auch Tiere scheuten sich nicht, in den Lauf des Flusses einzugreifen und ihm die auserwählten Hölzer zu entwenden. Meist waren es Tiere, die Baumaterial für ihre Höhlen suchten – wie Biber und Ratten. Einige Male hatten aber auch bereits Hunde entdeckt, dass man mit vorbeischwimmenden Hölzern wunderbar viel Spaß haben konnte.
Der Fluss war stets traurig, wenn er eines der Hölzer verlor. Doch sein fließendes Gemüt vermochte diese Trauer nie lange aufrechtzuerhalten. Stattdessen hielt er Ausschau nach dem nächsten Holz, das er eine Weile mitnehmen könnte.
Vergangenheit war etwas, das der Fluss nicht kannte. Dafür hätte er seinen Lauf ändern und in Richtung der Quelle zurückfließen müssen, aus der er ursprünglich kam. Auch die Gegenwart war für ihn ständig im Fluss. Sein Wasser drängte und schubste ihn stets in die gleiche Richtung, ohne ihn innehalten zu lassen. Er lebte für die Zukunft. Floss ihr entgegen, manchmal leise und kräuselnd, dann wieder rauschend und schlagend.
Der Fluss selbst machte sich nichts aus den Zeiten. Er vermochte es nicht, sie wahrzunehmen, also bedeuteten sie ihm nichts. Aufregung bedeutete ihm nichts. Nicht mehr. Er hatte sie wahrgenommen, als etwas Unglaubliches passierte, etwas, das niemals hätte passieren dürfen. Aber nun war er ruhig. Gelassen. Floss einfach vor sich hin und genoss das Leben mit den Treibhölzern. Ergötzte sich daran, als Einziger die Steine, die sich ihm in den Weg stellten, umrunden zu können, ohne dass sie in der Lage gewesen wären, ihn abzubremsen oder gar aufzuhalten. Und er freute sich daran, der Welt einen Spiegel vorhalten zu können. Er empfand sich als Künstler, Maler. In seinem Wasser konnte er alltägliche Bilder einfangen und nach Belieben verändern. Er konnte sie verwischen, verdunkeln oder in kreisende Bewegung versetzen. Und anschließend schickte er sein Werk wieder hinauf in die echte Welt. Er zeigte der Realität eine Wirklichkeit, die er kunstvoll erschaffen hatte. Er zeigte ihr die Wirklichkeit, wie er sie sah.