• "Wieder erklang das leise Kratzen, als die Feder über das noch unbeschriebene Pergament glitt. Alfred war völlig in seine Arbeit versunken. Lebte in ihr.Die Wahrheit der Menschen um ihn herum war für ihn nicht wichtig und für seine Arbeit nicht greifbar. Nur das Kratzen der Feder erinnerte ihn an eine Welt außerhalb seines Buches und seiner Gedanken.Etwas ungünstig wirkte sich auf Alfreds Arbeitsweise allerdings die Tatsache aus, dass er selbst in dieser von ihm so erfolgreich verdrängten Welt festsaß.Dabei wusste er noch nicht, dass ein Freund bereits an seinem Schicksal schrieb. Und dass er der Hilfe zweier Menschen bedurfte, um den Weg zurück in seine Heimat zu finden, wo sich ein Schatten auf die altehrwürdige Büchergilde herabsenkte..."
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Prolog

Paris

1982

Alles begann mit einem Buch.

Von außen erschien es ihm klein, alt und farblos. Der dunkle Ledereinband wies bereits deutliche Gebrauchsspuren auf und ein paar der darin liegenden Seiten schienen sich vom Leim gelöst zu haben und lugten unter dem Einband hervor. Sie waren an manchen Stellen eingerissen und hatten sich gelblich verfärbt. Das ganze Buch wirkte so … unscheinbar. Zumindest so lange man es von außen betrachtete. Ein Buch unter vielen in einem Antiquariat, das selbst schon bessere Zeiten gesehen hatte. Doch Monsieur Dupoit ließ sich nicht beirren. Die äußere Hülle, das Erscheinungsbild – er wusste, dass dies alles nur Fassade war. Eine äußerst clevere Art und Weise, nicht aufzufallen und weiterhin unbeachtet in dem hölzernen Regal in der hintersten Ecke des düsteren Verkaufsraums stehen zu bleiben. Wirklich, sehr clever.

Monsieur Dupoit lächelte. Er wusste es besser. Monatelang hatte er in Bibliotheken Nachschlagewerke gewälzt und die Untiefen zahlloser privater Büchersammlungen erkundet. Beim Stadtarchiv kannten sie ihn inzwischen beim Namen. Der Einband des schwarzen Notizbuchs, das in Monsieur Dupoits linker hinterer Hosentasche steckte, war vom ständigen Gebrauch fettig und quoll über vor losen Blättern, auf denen er seine zahllosen Theorien sowie historischen und literarischen Verweise verewigt hatte. Er hatte sich in seiner Wohnung regelrecht vergraben. Zeitungsstapel und Bücher, die er aus Bibliotheken ausgeliehen und dann vergessen hatte, bedeckten sämtliche Möbel und den Boden. Angefangen hatte es mit dem Schreibtisch, aber der war schnell zu klein geworden für all die Nachforschungen, die er betrieb. Heute wusste er schon gar nicht mehr, unter welchen Bücher- und Papierstapeln der Tisch überhaupt stand. Als nächstes hatten dann alle weiteren Ablageflächen in seiner Wohnung dran glauben müssen. Küchen- und Esstisch, die Kommode im Flur, der Schrank im Wohnzimmer und schließlich Stühle und die grüne fleckige Couch. Hatte er nicht auch irgendwann einmal ein Klavier besessen? War das nur im Papierchaos untergegangen oder hatte er es versetzen müssen, um Geld für seine Nachforschungen aufzutreiben?

Marie, seine Frau, hatte anfangs noch über sein liebenswertes Chaos gelächelt und stillschweigend versucht, wenigstens ein Mindestmaß an Ordnung aufrechtzuerhalten. Aber aus dem Lächeln war irgendwann ein gequälter Gesichtsausdruck geworden, schließlich ein Stirnrunzeln und dann war Marie mitsamt ihrem Gesichtsausdruck und ihrer beider Tochter aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden und hatte ihn alleine zurückgelassen. Er konnte es ihr nicht verdenken. Vor allem da er ihren Auszug erst nach einigen Tagen bemerkte, dann nämlich, als er endlich realisierte, dass er keine Mahlzeiten mehr vorgesetzt bekam und beißender Hunger bereits seinen Verstand vernebelte. Er ernährte sich anschließend von Kaffee, Zigaretten und belegten Baguettes. Den Schritt aus der Tür, um zu dem kleinen Lebensmittelladen an der Ecke zu gehen, tat er immer dann, wenn er sich daran erinnerte, dass es solch ein Gefühl wie Hunger in der Realität, aus der er sich inzwischen meilenweit entfernt hatte, immer noch gab.

Und nun war er hier. Er hatte sein Ziel erreicht. Monsieur Dupoits Lächeln vertiefte sich. Ein letztes Mal holte er sein Notizbuch hervor, um es zu konsultieren. Er las die letzten paar Zeilen, die er geschrieben hatte – mit euphorischer Hand und dick unterstrichen. Anschließend fand das Buch wieder Platz in der bereits unförmig verbeulten hinteren Hosentasche. Die paar losen Seiten, die beim Wegstecken auf den Dielenboden flatterten, bemerkte Henri Dupoit in seiner Aufregung nicht. Dies war sein Augenblick. Sein Ruhm. Sein Vermächtnis.

Langsam streckte Monsieur Dupoit eine zitternde Hand nach dem Buch aus. Da war es. Unter seinen Fingern konnte er jede Unregelmäßigkeit des dunkelbraunen Ledereinbands spüren. Fast liebevoll glitten sie sanft über die zerfurchte Oberfläche, die ihm auf seltsame Weise vertraut vorkam. Dann wurde sein Griff fester. Monsieur Dupoit schickte sich an, das Werk aus seinem langen Dornröschenschlaf zu erlösen und das Buch aus dem Regal zu ziehen. In diesem Moment verschwand er.

Einblicke in den WELTENSCHREIBER

  • Prolog

    Paris

    1982

    Alles begann mit einem Buch.

    Von außen erschien es ihm klein, alt und farblos. Der dunkle Ledereinband wies bereits deutliche Gebrauchsspuren auf und ein paar der darin liegenden Seiten schienen sich vom Leim gelöst zu haben und lugten unter dem Einband hervor. Sie waren an manchen Stellen eingerissen und hatten sich gelblich verfärbt. Das ganze Buch wirkte so … unscheinbar. Zumindest so lange man es von außen betrachtete. Ein Buch unter vielen in einem Antiquariat, das selbst schon bessere Zeiten gesehen hatte. Doch Monsieur Dupoit ließ sich nicht beirren. Die äußere Hülle, das Erscheinungsbild – er wusste, dass dies alles nur Fassade war. Eine äußerst clevere Art und Weise, nicht aufzufallen und weiterhin unbeachtet in dem hölzernen Regal in

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  • Kapitel 5

    Schon als Kind lernt man einige elementare Regeln für das tägliche Überleben. Schau nach beiden Seiten, bevor du über die Straße gehst. Leg dich in der Schule nicht mit den Größeren an. Finger weg von Drogen. Und lass niemals, niemals einen Fremden in deine Wohnung.

    Vielleicht war es weingetränkter Fatalismus, der Matthew dazu brachte, letztere Regel zu ignorieren. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er die letzten vier Monate sowieso mit einer scheinbar völlig Fremden zusammengelebt hatte.

    Matthew hatte nicht lange nachgedacht, bevor er ihn hierher gebracht hatte. Er hätte den Mann natürlich in ein Krankenhaus bringen können, aber es schien ihm weiter nichts zu fehlen. Die Polizei wollte er ebenso wenig rufen. Der Fremde wirkte

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  • Kapitel 13

    Er schrieb. Und schrieb. Nichts würde ihn jemals davon abbringen können. Schreiben war sein Leben.

    Alfreds noch junge Stirn war aufgrund der Konzentration, die von ihm Besitz ergriffen hatte, in tiefe Falten gelegt. Sein Geist befand sich nicht mehr in dieser Welt. Was kümmerte ihn sein Aussehen! Was kümmerte es ihn, wie er auf die Menschen wirken mochte! Noch dazu verirrte sich niemand freiwillig in diese kleine, heruntergekommene Bar, deren Eingangstür nur über eine Treppe zu erreichen war, die von einer einsamen Gasse aus in den Keller eines alten Mehrfamilienhauses führte. Genau diese schattenhafte Existenz, die das Etablissement zu einem Leben abseits der belebten Kneipen und Cafés verdammte, hatte Alfred überhaupt erst auf die Idee gebracht, hier seinem

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