• "Splitter" sind Teile unserer Welten, die nicht in den Büchern vorkommen. Es sind kurze Geschichten, Legenden oder Szenen, die wir im Laufe der Zeit noch zusätzlich ausgegraben haben und die ganz einfach auch erzählt werden wollten.
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Überall und Nirgends

Dieser eine Moment

Er stand im rötlichen Licht der untergehenden Abendsonne und blickte hinaus über das Meer. Das endlose Wasser wirkte grau an diesem Abend, nur dort, wo es der Tagbeleuchter noch mit ein paar letzten Strahlen umgarnte, schimmerte es verschämt hellrot bis rosafarben.

Der junge Mann mit dem dichten blonden Haar stand reglos da und schien tief in Gedanken versunken. Sein wohlgeformter Oberkörper war unbedeckt und glänzte leicht im farbigen Licht der untergehenden Sonne. Tausend und abertausend winzige Sterne bewegten sich glitzernd über seine nackte muskulöse Brust und ließen ihn zu einem Teil des perfekten Abendbildnisses werden.

Der Tagbeleuchter versank im Meer, das letzte verbliebene Halbrund der rot leuchtenden Scheibe verschwand hinter dem Horizont und der junge Mann drehte sich um. Kein Bildnis.

Er erblickte sie und erstarrte inmitten seiner anmutigen Bewegung.

Gar nicht mehr so anmutig, sondern völlig aus der Bahn geworfen, verharrte er nun und schaute sie an. Mit Augen, die so blau und klar waren wie das Meer an seinen schönsten Sommertagen.

Sie schien in diese Augen zu fallen und hatte das Gefühl, schnellstmöglich schwimmen lernen zu müssen, um darin auch bloß nicht unterzugehen. Er lächelte. Und so einfach tauchte sie aus seinen Augen auf und verlor sich genauso unwiderruflich in seinem Lächeln.

Sie konnte nichts anderes tun als ihm regungslos entgegenzublicken, als er seine Anmut zurückerlangte und die spärliche Lücke zwischen ihnen langsam aber selbstsicher schloss.

Als er vor ihr stand und sie sich immer noch nicht gerührt hatte, wurde sein Lächeln zu einem eher schelmischen Grinsen und sie erwachte, wie aus einem Traum. Ein leichtes Frösteln überlief sie, als sie ihr Gegenüber noch einmal eingehend musterte. Den Mund mit dem umwerfenden Lächeln und die Augen, die so blau und klar waren wie … sie selbst war in diesen Augen. Sie erblickte ihre eigene schlanke Gestalt, ihr fein gezeichnetes Gesicht und ihr weißblondes langes Haar, das es sanft umrahmte. Doch sie erblickte noch mehr. Ihr Mitgefühl. Ihre verträumte Losgelöstheit von den weltlichen Belangen überall und nirgends. Ihre innere Stärke und Loyalität. Sie schaute tief in diese Augen, die nun keinerlei Gefahr mehr für sie bargen und ließ ihren Blick dann über sein edel geformtes Gesicht und den athletischen Körper wandern. Abertausende winzige Sterne, die immer noch funkelten, obwohl die Dämmerung sie beide umfing und die Welt um sie herum in Düsternis getaucht war. Er leuchtete.

„Du bist der Sohn der Sonne“, hauchte sie ergriffen und erschrocken zugleich. Er betrachtete sie lange und schien ihr immer noch in die Seele zu blicken.

„Und du bist die Tochter des Mondes.“ Seine Stimme war rau und sie verspürte bei seinen Worten ein plötzliches Wissen um die Schicksalshaftigkeit dieses Moments. Genauso wie er darum wusste. Denn der Griff seiner warmen Hand, die sich um ihre kühlen Finger schloss, war sicher und fest, doch sie konnte einen leichten Anflug von Furcht im kurzen Erzittern ihrer fest umschlungenen Hände erahnen.

Er zog sie noch näher zu sich heran und sie folgte willig. Hier gab es keine Bedenken, keinen Ausweg mehr. Er war ihr Weg und sie der Seine. Es war unmöglich, aber fast schien es, als bekämen sie einander ihr Schicksal. Einen Augenblick lang dachte die schlanke junge Frau an ein kleines schwarzhaariges Mädchen im gelben Kleid und ertappte sich bei der Frage, was es wohl zu solch ungewöhnlichen Gedanken sagen würde. Doch dann dachte sie gar nichts mehr. Denn seine Lippen fanden die ihren und dieser erste leidenschaftliche Kuss ließ sie alles um sich herum vergessen. Ein überirdisches Leuchten breitete sich aus und erfüllte ganz Meerwasser mit einem Gefühl unendlicher Harmonie. Überall und nirgends erstrahlte – für einen sehr kurzen Moment.

Dann zog sich die junge Frau hastig von ihm zurück und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu.

„Meine Mutter…“, flüsterte sie ängstlich. „… sie kommt.“

Der Sohn der Sonne nickte leicht. Auch auf seinem Gesicht spiegelte sich das tiefe Bedauern, das sie verspürte. Bis es einem Ausdruck wilder Entschlossenheit Platz machte.

„Vor der Morgendämmerung?“, fragte er rasch.

Sie brauchte sich nicht danach zu erkundigen, was er meinte. Und über ihre Antwort musste sie auch nicht nachdenken.

Als sie einfach sofort nickte, überzogen sich ihre beiden Gesichter mit einem erleichterten Lächeln. Ein letzter liebevoller Druck seiner Hand, dann war er verschwunden. Aber die Tochter des Mondes wusste, wann sie ihn wiedersehen würde. Ein glückliches Leuchten breitete sich in ihr und um sie herum aus, als sie regungslos dastand und tief in Gedanken über das Meer blickte, an dessen Horizont sich nun langsam eine weiße, fahl schimmernde Scheibe über das Wasser erhob.

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