Gedanken über einen Grashalm im Wind
am 31.08.2021
"Ein Grashalm im Wind" bekam heute für mich noch einmal eine ganz neue Bedeutung. Oder, vielleicht nicht direkt eine "neue" Bedeutung, eher ein ganz offensichtlich reales Bild, das ich plötzlich vor Augen hatte, als ich aus dem Fenster unseres Ferienhauses hinaus auf die Dünen blickte. Hinter den Dünen beginnt das Meer und beginnt und beginnt und beginnt ... und meine Gedanken wurden auf einmal endlos.
Also – die Gräser. Es sind lange Gräser. Hübsch sind sie mit ihren grünen, braunen und ockerfarbenen Halmen, die sich fast tänzerisch bewegen. Und es sind viele. Büschelweise stehen sie in Gruppen, die sich nebeneinanderdrängen. Büschel um Büschel und Gruppe um Gruppe, bis sie zu einer weiten Grasfläche werden. Auf den ersten Blick monoton, aber auf den näheren Blick doch einzigartig, jedes für sich.
Ich mag Gras. Jede Art von Gras. Wenn Gräser blühen, sehen sie – zumindest in meinen laienhaften Augen – immer unterschiedlich und überraschend interessant aus. Wenn man kleiner wäre, könnte man unter den Halmen ganz wunderbar spazieren gehen und – immer vorausgesetzt, man wäre sportlich genug, sie zu erklimmen – einfach fabelhaft auf ihnen herunterrutschen. Wenn man größer wäre und zum Beispiel ein wiederkäuendes Säugetier, könnte man die Halme fressen und wenn man ein verspielter übermütiger Hund ist, macht es anscheinend riesigen Spaß, sich in ihnen zu wälzen.
Gräser also. Gräser im Wind. Jetzt weiß ich erst wirklich, woher diese Bezeichnung kommt. Elegant sehen sie aus, die Gräser, die sich auf den Dünen im Wind biegen. Vor und zurück. Vor und zurück. Ohne zu brechen.
Es erinnert mich an diese epischen Filme, die voll sind mit asiatischer Kampfkunst, in denen der Held oder die Heldin oder diverse Held/-innen beigebracht bekommen, wie man sich so richtig mühelos aus der Reichweite eines gegnerischen Schwertes bewegt. Sie sollen sein "wie der Grashalm im Wind" und sich so rückgratlos beugen, dass das feindliche Schwert nur noch völlig überrascht und ziellos über sie hinwegzischen kann. Und dann – die Tigerkralle oder der Adlerschnabel ... und Ende.
Aber "rückgratlos" ist – wenn vielleicht auch kein richtiges Wort – so doch auch wieder etwas, was heute bedauerlicherweise erneut in Mode gekommen ist. Nicht beim Schwertkampf, das war ja noch irgendwie cool und mutig, sondern in den unterschiedlichsten Situationen, die unsere Gesellschaft so bereithält. Ein Grashalm im Wind ist letztlich wie ein Fähnchen im Wind. Wenn auch etwas eleganter und vielleicht auch nicht ganz so flatterhaft. Doch die Tatsache bleibt. Er beugt sich dem Wind. Kompromisslos. Ohne Aufzubegehren. Kein einziges dieser Gräser dort draußen vermag es, dem Wind standzuhalten und ihm seine eigene Meinung, seine eigene Ansicht oder einfach die Tatsache, dass es sich jetzt gerade vielleicht nicht in diese eine vorgegebene öde Richtung beugen möchte, bitteschön, entgegenzuwerfen. Auch wenn sich der Grashalm noch so sicher ist, dass er selbst eine bessere, schönere Richtung wüsste, in die er sich wahnsinnig gerne und sinnvoll bewegen würde – nichts. Keine Chance. Demütig wiegt und neigt er sich, beugt den Kopf und die Vernunft und verkriecht sich gleichzeitig zwischen den vielen anderen windigen Grashalmen, um möglichst nur einer von vielen zu sein und in der Masse an Halmen einfach unterzugehen.
... und seit wann ist das "nur einer von vielen" eigentlich etwas Positives geworden? Noch etwas, das es zu bedauern gibt.